Serie "Zeitzeugen": In Dülken herrschte Totenstille

Serie "Zeitzeugen" : In Dülken herrschte Totenstille

Wenn sich Hans-Willi Lennertz an den Morgen des 2. oder 3. März 1945 erinnert, befällt ihn gut 70 Jahre später immer noch ein ungläubiges Staunen. Nahezu unwirklich erscheint, was der heute 87-Jährige berichtet.

"In meinem Elternhaus an der Mevissenstraße konnten wir das Orgelspiel aus der Pfarrkirche St. Cornelius hören", so Lennertz. Ganz Dülken war in den ersten Tagen nach der Befreiung durch das amerikanische Militär von einer so gespenstischen Stille erfüllt, dass die Klänge aus dem Kirchenraum auch in mehr als einem Kilometer Entfernung, am Eingang zum Stadtgarten, deutlich zu hören waren.

Nur wenige Tage zuvor, um 6 Uhr am 1. März 1945 erfolgte die Einnahme der Stadt Dülken durch die 84. US Infanterie Division "Rail Splitter". Statt Grabesstille erfüllten Lautsprecherdurchsagen die Straßen, mit denen der Kommandeur des 2. Bataillons, Oberstleutnant Daniel P. Normann Besatzer und Bewohner der Stadt zur friedlichen Kapitulation aufrief um ein sinnloses Blutvergießen zu vermeiden.

 Dank dieses "Wehrpasses" musste Hans-Willi Lennertz nicht aktiv am Krieg teilnehmen. Er war mit 1,51 Meter zu klein und wurde ausgemustert.
Dank dieses "Wehrpasses" musste Hans-Willi Lennertz nicht aktiv am Krieg teilnehmen. Er war mit 1,51 Meter zu klein und wurde ausgemustert. Foto: Groschopp

Lennertz erlebte den Einmarsch in der — zum Bunker umgebauten — Bahnunterführung auf der Mevissenstraße. Dort hatten sich in den letzten Tagen so viele Anwohner versammelt, dass selbst die Kerzen wegen des Sauerstoffmangels erloschen. "Wir staunten alle über die Übermacht der Amerikaner", berichtet Lennertz aus seinen Erinnerungen.

Dass er selbst nicht unmittelbar in Kampfhandlungen verwickelt war, hatte der Dülkener dem Umstand zu verdanken, dass er bei der Musterung nur 151cm maß. Immer wieder wurde er als untauglich zurückgestellt. Mit zehn Jahren wurde er Mitglied des Jungvolks, mit vierzehn dann der Hitlerjugend (HJ). Auf Nachfrage zu seiner Verbindung zur HJ berichtet er: "Selbstverständlich war ich Mitglied. Dies war damals auch eine Pflicht. Wer sich heute damit brüstet, er sei nicht in der HJ gewesen, der wurde schlicht und einfach als gesundheitlich untauglich erklärt oder entsprach nicht dem arischen Ideal."

Auch über die Deportation der jüdischen Mitbürger spricht Lennertz völlig offen: "Keiner kann sagen, er hätte nicht mitbekommen, dass mit den Juden unter uns etwas passierte. Es gingen Gerüchte und Berichte von der Internierung in Arbeitslagern um." Von den Massenvernichtungen in den Konzentrationslagern habe man erst durch die Berichte der Alliierten erfahren. "Wir waren absolut erschüttert. Wir wollten zunächst gar nicht glauben, dass Menschen so grausam sein können", so Lennertz.

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Im Sommer 1944 wurde der damals 17-jährige Industriekaufmanns-Lehrling in einer Hundertschaft zur Erstellung von Panzergräben in Brüggen, Rheindahlen, Hertogenbosch (NL) und schließlich an den Süchtelner Höhen dienstverpflichtet. Von dort sah er auch im Dezember 1944 einen Bombenangriff auf Dülken, der im Garten seines Elternhauses einen großen Bombentrichter hinterließ. Im selben Jahr wurde er kurzfristig zur Zielscheibe eines Jagdbomber-Piloten. Lennertz konnte sich in letzter Sekunde hinter einem Mauervorsprung in Sicherheit bringen. "Der Flieger war so nah, ich hätte den Piloten malen können", erzählt er nachdenklich.

Wenige Monate später erfolgte dann der Einmarsch der Amerikaner. "Für uns war es im wahrsten Sinne des Wortes eine Befreiung. Wie waren alle unglaublich erleichtert", zeigt sich Lennertz dankbar. Seine Familie musste den Verlust eines geliebten Menschen verkraften. Das letzte Lebenszeichen von Lennertz‘ Schwager kam in den letzten Kriegstagen aus dem Gebiet zwischen Dülken und Erkelenz. Er blieb vermisst und wurde höchstwahrscheinlich in einem Grab für unbekannte Soldaten beerdigt.

Lennertz selbst legte nach seiner Ausbildung zum Industriekaufmann auch noch die Prüfung zum Bilanzbuchhalter ab. 1956 wurde ihm eine Stelle als Finanzprokurist und kaufmännischer Leiter in Rheydt angeboten und er verließ seine Heimatstadt. In diese sollte er später aus beruflichen Gründen zurückkehren. Bis zu seiner Pensionierung war er Prokurist in der bekannten Dülkener Textilmaschinen-Fabrik Güsken. Heute lebt Hans-Willi Lennertz in Wickrath. Als Mitglied des Vereins Geschichte für Alle widmet er sich mit großer Hingabe der Geschichte der Städte Dülken und Viersen.